«Kostenneutrale» Digitalisierung — wirklich?

15.06.2023@10:15
Grüngut-Vignette/-Chip
Hintergrundinformation:
Anfrage Nr. 1 (08.03.23)
Antwort vom Stadtrat (08.05.23)
Anfrage Nr. 2 (28.06.23)

Mit grossem Trara hat die Stadt Aarau die bewährte Grüngut-Vignette zum Auf­kleben ab­ge­schafft und zwingt seit 2023 alle Kunden dazu, dass sie sich für 20 Franken einen «Chip» kaufen, der unter der Ober­kante des Grün­kübels montiert werden muss. Ein analoges, kosten­günstiges und erst noch umwelt­freundliches System (1x pro Jahr Vignette bestellen, bezahlen und auf­kleben), das sich während Jahr­zehnten bewährt hat und im Betrieb absolut keine weiteren Ressourcen ver­braucht (auch keinen Strom!), wird also «digitalisiert». Neu ist aber nicht automatisch besser! Das neue System hat nämlich eine deutlich schlechtere Umwelt­bilanz: Am Ende ihrer Lebens­dauer müssen die an den Ent­sorgungs­fahr­zeugen mon­tier­ten Lese­geräte als Elektro­schrott entsorgt werden, und die Chips sind mit dem nächsten System­wechsel eben­falls Elektro­schrott oder einfach Sonder­müll. Nicht ab­schlies­send klären konnte ich, ob diese Übung im Zusammen­hang mit der «Smart City Aarau Strategie» steht; im Umsetzungs­plan war jeden­falls nichts zu finden zum Thema «Verchippung» der Grün­kübel.

Als weitere grosse Errungen­schaft wird uns Kunden das «Abo» angepriesen, d.h. die auto­matische Erneuerung ohne jähr­liche Bestellung. Wer selber denkt (!), dem ist natürlich klar, dass diese Änderung ohne jegliche Zusatz­kosten auch mit der bewährten Jahres­vignette hätte erfolgen können. Aber eben, «digital ist einfach besser» ent­spricht dem heutigen Zeit­geist, egal was es kostet. Gerade uns älteren Semestern wird es jeden Tag unter die Nase gerieben: Wer heute nicht digitalisiert, der ist von gestern!

Wer die Propaganda verdaut hat und einen Blick auf die nackten Zahlen wirft, der wird leider eben­falls ent­täuscht. Obwohl jeder Kunde den System­wechsel unge­fragt mit 20 Franken hat alimentieren müssen, was bei 2'900 Kunden immer­hin der stolzen Summe von 58'000 Franken ent­spricht, kann die Stadt Aarau unter dem Strich im Betrieb (also bei den wieder­kehrenden Kosten) keinen einzigen Franken ein­sparen. In seiner Antwort vom 8. Mai 2023 schreibt der Stadt­rat lapidar: «Das Grün­gut-Abonne­ment zeigt sich gegen­über der Jahres­vignette kosten­neutral.»

Ein gänzlich unkritischer Medien­bericht druckt mehr oder weniger ab, was der Stadt­rat «vor­gerechnet» hat. Schön wäre es natür­lich gewesen, wenn die Journalistin «nach­gerechnet» hätte. Aber eben, selber rechnen ist, wie selber denken, anstrengend. Statt die ungeprüfte Behauptung, dass das Grün­gut­abo gegen­über der Vignette kosten­neutral sei, ein­fach zu über­nehmen, hätte man anhand weniger Über­legungen zeigen können, dass das Prädikat «kosten­­neutral» reine Augen­wischerei ist. Wie sehen denn Umwelt­bilanz und Finan­zierung aus für dieses Projekt? Dazu sind nicht nur die jähr­lich wieder­kehrenden Kosten in Betracht zu ziehen, sondern die ein­maligen Umstellungs­kosten sind über einen ver­nünftigen Zeit­horizont abzuschreiben. Wer Auto fährt, der berück­sichtigt für seine Kilometer­kosten ja auch nicht nur die Treib­stoff­kosten (oder modern: Strom­kosten).

In stark abgekürztem Ver­fahren behandelt der Stadt­rat die Einmal­kosten für den System­wechsel: Auf­rüstung der Ent­sorgungs­fahr­zeuge (16'500 Franken) sowie Marke­ting (ca. 9'800 Franken). Den Betrag von 40'600 Franken für den mit Abstand grössten Posten «Aufwand für die Administration, die Program­mierung, die Montage des Daten­trägers (bei Bedarf) und die Versand­spesen» muss man dann selber berechnen, als Differenz zwischen Einkaufs- und Verkaufspreis der Chips (6 Franken resp. 20 Franken), multipliziert mit der Anzahl von Grüngutabos (ca. 2'900 Stück); komplett falsch ist die Behauptung, dass diverse aus­ge­führte Arbeiten das Budget der Stadt «nicht belastet» hätten, da sie von einer «Person der Arbeits­integration» aus­geführt wurden. Gemäss Beobachtungen von Mit­bürgern war mindestens eine städtische Mit­arbeiterin zusätzlich während mehrerer Tage mit dem Aus­tausch von Grün­kübeln be­schäftigt. Es ist auch davon aus­zu­gehen, dass etliche Fahrten mit einem Liefer­wagen not­wendig waren, um die neuen Kübel aus­zu­liefern und die alten Kübel ein­zu­sammeln. Die Antwort des Stadt­rats vom 8. Mai 2023 ist also nach­weis­lich unwahr und/oder unvoll­ständig.

Anhand der folgenden Auf­stellung Sicht Stadt (Angaben des Stadt­rats, ergänzt um Korrekturen und geschätzte Kosten für vom Stadt­rat ignorierte Positionen) stellt man fest: Drückt man beide Augen zu und ignoriert man die Verschlechterung der Umwelt­bilanz, das neue System könnte im Betrieb knapp kosten­neutral sein. Sollte es aber in zukünftigen Jahren gröbere Über­raschungen geben mit Geräte­defekten und anderen uner­warteten Kosten (Software-Upgrades, steigende Kosten (Strom!) für den Betrieb im RZ, Hacker-Angriffe auf das Chip-Verwaltungs­ssytem oder gar die Entsorgungs­fahr­zeuge usw.), so wird das neue, digitale System klar schlechter ab­schneiden als das alte, analoge System. Ganz unschön ist, dass aus der Umstellung - vor­sichtig geschätzt - ein­malige Netto­kosten von mehr als 30'000 Franken stehen bleiben (ob­wohl die Grün­gut­kunden mit dem über­teuerten Preis von 20 Franken pro Chip netto ca. 40'000 Franken an den System-Wechsel bei­ge­steuert haben). Ent­weder werden Steuer­zahlerinnen und -zahler zur Kasse gebeten, oder es gibt in Zukunft höhere Gebühren für uns Grün­gut­kunden (im aktuellen Umfeld mit spürbarer Inflation und Preis­erhöhungen an jeder Front darf man davon ausgehen, dass auch der Staat gute Gründe für das Drehen an der Gebühren­schraube finden wird):


Kostenübersicht Digitalisierung


Wer selber nachrechnet, für den ist sofort klar: Es handelt sich um ein Projekt mit negativem Nettobarwert (net present value). Die Grüngutkunden haben für den Systemwechsel einmalig 58'000 Franken aufgeworfen, aus der Steuerschatulle hat die Stadt Aarau zusätzlich gut 30'000 Franken entnommen. Wie allzu oft bei staatlichen Projekten, die am Schreibtisch ausgeheckt werden, lautet das Fazit: Ausser Spesen nichts gewesen.